Schwebend durch die Nebelwand

Es ist kühl geworden. Der Atem scheint zu gefrieren, der leichte Nordwind schneidet durch die oberen Hautschichten, als hätte ihn eine deutsche  Klingenfabrik per Prime Lieferservice Richtung Süden versandt.

Es herrscht Ruhe entlang der Strandpromenade. Die Sonne ist gerade erst erwacht, während sich Palmen, Kakteen und Araukarien ihren ersten Schluck herrlich belebenden Morgentaus genehmigen.

Die Flut rückt mit leichtem Meeresrauschen näher. 

Selbst das leise, rhythmische Knarzen der Kettenglieder meines Fahrrads, welche wie ein übersäuerter Sportler um die Auswechslung bitten, endlich den neuen, jungen Talenten eine Einsatzchance zu ermöglichen, passt doch irgendwie hinein in diese Szenerie, diese sich, wie beim Murmeltiertag alltäglich wiederholende, Idylle.

Für einen puren, unverfälschten Genuss wurde jedoch bereits eine zu hohe Dosis Noradrenalin im Körper freigesetzt, welches für maximale Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit sorgen soll.

So idyllisch, vielleicht sogar traumhaft diese allmorgendliche Szenerie auch sein mag, alleine bin ich nicht unterwegs. Tatsächlich sorgen sehr viele Frühaufsteher für recht reges Treiben auf den Straßen, in den kleinen Gässchen und natürlich auch auf der Strandpromenade. 

Bei vollem Fokus durch die Vignette tauchen sie immer und immer wieder vor mir auf: Schattengestalten, welche sich stetig im Geradeauslauf befinden, nur um Sekundenbruchteile vor meiner Ankunft wie ferngesteuert in einem netten neunzig Grad Winkel vom grau gepflasterten Gehbereich auf den roten Radstreifen und somit unmittelbar vor meinem Vorderrad einzuscheren.  Die Nackenmuskulatur noch im Tiefschlaf oder bereits in diesen frühen Morgenstunden mit einem derart hohen Erschöpfungsgrad, daß ein Heben des Kopfes und daraus resultierendes Entfernen des Blickes vom Smartphone Bildschirm ein schier unmögliches Unterfangen wird.

Wie in einem Videospiel bahne ich mir den Weg. Stetiger Dauerbeschuss urplötzlich vor mir auftauchender Menschen, mal von rechts, dann von links oder vorne, selbst rechts rechts oder links links Kombinationen sind nicht selten. 

Heil zu Hause angekommen, fragt der Kühlschrank nach Befüllung um nicht ganz so nutzlos vor sich hin zu brummen. Also heißt es: Zurück auf die Straße. 

Nach erfolgreich abgeschlossenem Anfangslevel in den Morgenstunden, wird der Schwierigkeitsgrad angehoben. Hindernisse kommen  nun motorisiert, auf vier Rädern  und in deutlich höheren Geschwindigkeiten ins Sichtfeld und als extra Würze heißt es, den Blick des jeweiligen Gegenüber durch Sonnenstrahl reflektierende Windschutzscheiben zu erspähen. Schnell wird klar, das es sich bei erwähnter Würze weder um Chili, noch um schwarzen Pfeffer sondern wohl eher um vielleicht leichtes Paprikagewürz, edelsüß, handelt. Der extrem hohe Prozentsatz derer, welche den Blick Richtung Mittelkonsole gerichtet halten oder den Kopf zumindest im Rhythmus eines Wackeldackels ins Zentrum ihres Wageninneres neigen, erleichtert ein eigenes  vorausschauendes und defensives Fahrverhalten. Das Fahrzeuge jeglicher Couleur derartige Probleme mit ihrer Bordelektronik zu haben scheinen, verwundert am Ende schon ein wenig. Eventuell sind es schlussendlich doch mobile Endgeräte und nicht die Sitzheizungsregulierung, Navigationsassistenten oder die Klimaanlagensteuerung welche die Blicke vom Treiben auf der Straße hin zur rechten Hand wandern lassen.

Angekommen. 

Nun auch mit vier Rädern unterwegs, allerdings vor mir herschiebend, geht es zügig durch die Gänge des Supermarktes, so jedenfalls der Plan. Glücklicherweise hat mich der bisherige Tag ausreichend geschult und meine Sinne geschärft, denn selbst zwischen den Waren Regalen werden elektronisch verschickte Nachrichten gecheckt und in sozialen Medien erforscht, was der Nachbar wohl gerade so treibt während man sich ganz nebenher Spaghetti, Wein und Badutensilien in den Gitterwagen legt.

Wohlbehalten stehe ich der Kassiererin gegenüber, von Angesicht zu Angesicht. Mit Blickkontakt. Eine wahre Wohltat. 

Das der Weg der gerade erstandenen Waren zum Kofferraum noch ein langer sein würde, kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

Kaum bezahlt, setze ich mein Einkaufsgefährt mit vollem Bein und Armeinsatz in Bewegung, um kurz darauf eine Hand an den Nothaltegriff schnellen und einen äußerst abrupten Bremsvorgang folgen zu lassen.

Eine mächtige Silhouette hat sich vom Parkplatz her Richtung Einganstür bewegt, den Einkaufswagen sauber zwischen den Schiebetüren geparkt, die Konturen äußerst gestresst wirkender Gesichtszüge vom gesamten Farbspektrum des kleinen LED Bildschirms in der Hand angestrahlt, mal recht hart und manchmal in etwas weicherem und schmeichelhafterem warmen Licht. Bleibt die Tatsache, das gerade einem guten Dutzend Menschen der Weg ins Freie versperrt wird. 

Mit einem zart gehüstelten: „Entschuldigen Sie bitte!“ versuche ich auf mich und die Situation aufmerksam zu machen. 

Der zweite Versuche kommt dann schon etwas tiefer aus dem Bauchraum in die Weite röhrend und beim dritten, deutlich energischeren „Entschuldigung“ kann ich das Zittern meiner Gesichtsnerven deutlich vernehmen.

Die folgenden Gedanken bewegen sich irgendwo zwischen einer vorsichtig wischenden Handbewegung im Sichtbereich zwischen geweiteten Pupillen und intelligentem Telefon bis hin zum Lehrbuch Tackle aus dem favorisierten  Profispot der Nordamerikaner.

Noch bevor dieser Gedanke zu Ende geträumt und die Mundwinkel ein Art finsteren Lächelns zeichnen können, bewegt sich die Fleischmassen Technologie Kombination,  gemächlich, ruckelnd wie ein etwas zu sehr in die Jahre und nicht gerade Scheckheft gepflegter Motor und nicht ohne dabei die umstehenden Personen zu touchieren, was zu einem jähen Fauchen führt, schließlich hat dieses Hindernis gerade zu einem kurzzeitigen Verlassens des digitalen Illusionsuniversums geführt.

 

Der Kühlschrank ist dank seiner neuen Befüllung glücklich und ich kann mich endlich an das Wesentliche machen.

Ermüdet sinkt mein schlapper Körper in den Bürostuhl, schafft es noch den vor mir stehenden Laptop zu öffnen, doch Bildschirm und Blick bleiben leer, zu ermüdend war dieser Tag, eine Konzentration auf das Wesentliche und Wichtige kaum mehr möglich.

Bleibt die Frage, aus welchem Grund sich weltweit so viele Menschen Gedanken und Sorgen um ein 5G Netz und dessen Folgen, der Sicherheit von Daten und Bewegungsprofilen, machen, reichen doch bereits 4G und sogar 3G um das Leben der meisten soweit in eine digitale Welt zu verlagern, das selbst Verkehrszeichen und Ampeln in den Boden eingearbeitet werden, um jene überhaupt noch zu erreichen. Eine digitale Welt, aus welcher ein Ausstieg aus eigenem Antrieb nicht vorgesehen scheint. Und so werden sie immer bleiben, die allgegenwärtigen Gestalten, welche wie ferngesteuerte Geister durch eine Nebelwand zu schweben scheinen.