Verlorene Momente

Jeder kennt sie, jeder hat etliche von ihnen erlebt und würde sie vielleicht gerne nochmals erleben, einzigartige Momente.

 

Der Tisch ist gedeckt. Ein einfacher, schlichter Holztisch, bereits in die Jahre gekommen, die ein oder andere Lage Lasur ließen von der ursprünglichen Maserung nicht mehr allzu viel übrig. Feuchtigkeit hat im zugesetzt, ebenso wie das Rücken von solidem Porzellan und ersten Wutattacken sehr junger Heranwachsender. 

Aber das spielt in diesem Moment keine Rolle. Selbst das festlich auf jenem Tisch angerichtete Menü, dessen Aroma, dessen einzigartiger Geruch die Anwesenden allesamt um etliche Jahre bis in die Kindheit zurück zu versetzen mag, wird zur Nebensache degradiert.

Foto, Foto hallt es durch das schlichte Wohn- Esszimmer, dessen Wände im Gegensatz zum Tisch in einem Top Zustand daherkommen, eventuell um einigen selbsterstellten Kunstwerken den passenden Rahmen zu bieten.

Lange ist es her das es die gesamte Familie samt neu erworbenem Anhang der Einladung zu einem Familientreffen ohne definierten Anlass Folge leisten konnte oder wollte. Nun ist es soweit. Alle sind gekommen. Das ist doch ein Foto wert. Vielleicht auch mehrere Fotos. Vielleicht benötigt auch jeder ein Foto, oder mehrere Fotos. Die Smartphones sind schneller gezückt als Jesse James in seinen besten Zeiten seinen Revolver. Vor der Fotowand ist ein wirklich tolles Motiv, aber auch der Garten ist gerade hergerichtet und bietet sich für weitere Bilder an und natürlich der festlich gedeckte Tisch. 

Nur noch kurz die Fotos abgleichen, Momentaufnahmen vergleichen und die besten, vielleicht auch die lustigsten, Bilder von einem intelligenten Kommunikationsgerät auf das nächste transferiert.

Das Essen ist mittlerweile kalt und die ganze Mühe bei der Zubereitung hätte man vielleicht doch besser in ein kaltes Buffet stecken sollen.

 

Es war ein wundervoller, sonniger Tag. Es verspricht einen einzigartigen Sonnenuntergang zu geben, die erste leichte Schichtbewölkung zaubert herrliche Konturen in den sich langsam einfärbenden Abendhimmel.

Wo könnte man dieses Schauspiel besser verfolgen als am Strand.

Wellen kommen an den Strand gerollt, eine nach der Anderen. Beim Aufprall der Wellenlippe auf die Wasseroberfläche kreiert die dabei entstandene Gischt ein bereits fast mystisch angehauchtes Szenario.

Freunde und Bekannte hatten den gleichen Gedanken, füllen nach und nach den Strandbereich. Noch kurz auf dem Smartphone nachsehen, wann genau die Sonne am Horizont verschwinden wird und da das digitale Endgerät bereits so günstig in der Hand liegt sind erste Foto, Foto Ausrufe nicht mehr weit. Schließlich soll auch dieser einzigartige Moment als digitaler Abdruck etwas Speicherplatz einnehmen dürfen, oder zur Direktansicht den bekannten und auch unbekannten Freunden der sozialen Netzwerke zur Ansicht und dazugehörigem kommentieren bereit gestellt werden. Ein paar Fotos hier, einige Selfies, noch ein paar weitere Fotos mit den Bekannten, welche sich komplett Smartphone befreit in eine hintere Ecke verkrochen hatten. Zum Glück war man so aufmerksam und konnte gerade noch rechtzeitig einige Bilder mit ihnen produzieren, sonst ständen sie schlussendlich vielleicht sogar ohne Möglichkeit da, diesen Moment wann immer sie wollen zurückholen zu können.

Schön war es, der Sonnenuntergang mittlerweile vorbei, aber bei der späteren Ansicht der Fotos, gemütlich auf der Couch sitzend während der neue Highlight Film des Steamingdienstes gerade anläuft, können wir das ganze Spektakel doch vielleicht sogar in viel besserer Farbwiedergabe genießen.

 

Doch können diese Momente wieder und wieder zurückgeholt werden?

Ist ein Foto mit deutlich veränderter Farbsättigung und Wiedergabe nicht doch eine Verfälschung des Tatsächlichen?

Gehört zum reellen Erleben eines Moments nicht viel mehr dazu, als der Sehsinn? Was ist mit den Geräuschen, der Atmosphäre vor Ort? Gesichtsausdrücke anderer oder einfach diese nicht greifbare Stille, unbezahlbar und kaum einzufangen durch ein mobiles Endgerät und noch weniger weiterzugeben ins große weite Netz, welches mittlerweile nicht nur Menschen aller Länder miteinander verbindet, sondern sich vielmehr bereits in die Blutbahnen der meisten Nutzer vorgearbeitet zu haben scheint.

Fotografie ist die Gestaltung mit Licht, das Licht und dessen Stimmung einzufangen und so real wie möglich wieder zu geben oder es kreativ einzusetzen.

Neben einer guten Portion Ausbildung sind vor allem Planung, Vorbereitung und Geduld Schlüssel zu einer erfolgreichen Ablichtung und Umsetzung einer Idee.

Dieser Cocktail führt nicht selten dazu, das Momente nicht im vorbeigehen schnell abfotografiert werden, um dann nur noch in den hintersten Ecken irgendwelcher Speichermedien zu existieren, sondern das Momente noch intensiver wahrgenommen werden, fast unauslöschlich, im Gegensatz zum gerade erstellten analogen oder digitalen Produkt.

Warten, bis der Sonnenauf- oder Untergang den wirklich richtigen Moment, die gewünschte Szenerie erreicht hat, das gewünschte Motiv durch den Sucher erkennbar wird, um dann auszulösen und diesen Moment in sich aufzusaugen um ihn so schnell nicht wieder loszulassen. 

Warten auf genau diesen einen Gesichtsausdruck. Mimik oder Gestik im Sport, in der Musik, welche den Eifer, den Wettkampf, Glück, Freude, Frust, Aggressivität, Leichtigkeit oder Verzweiflung in Perfektion wieder spiegelt und nicht nur die Situation in welcher eine Aktion geschieht.

Die wahre, pure Freude, die immer noch frisch verliebten Augenblicke bei einer Hochzeit. Es ist die geduldige Jagd nach diesen unvergesslichen Momenten, um sie im richtigen Moment unsterblich werden zu lassen. Nicht nur an einem Bildschirm, nicht in sozialen Netzwerken, sondern im ganz eigenen limbischen System, um es immer und immer wieder hervorkramen zu können, bevor neuerliche Foto, Foto Rufe einen in die neue Realität zurückholen werden.