Steilkurve

 

Es knirscht, rattert und knattert. Eisen reibt auf Eisen. Überdimensionale Kettenglieder rasseln monoton vor sich hin, verrichten solide ihre Arbeit. Schwerfällig setzt sich der Tross in Gang. Die Augen wandern auf eine nicht mehr ganz solide Lackschicht, Fett und Öl befinden sich ebenfalls im peripheren Blickfeld. Darüber strahlend Blauer Himmel, vereinzelte Cirruswolken deuten auf einen schönen Tag. Vögel sind zu erkennen, welche sich vom Gegenwind in die Höhe ziehen lassen, elegant und doch so voller Elan, zeitlos.

Der Magen fühlt sich leicht an und doch so schwer zugleich. Es kribbelt, auch die Gliedmassen haben etwas federleichtes an sich und scheinen doch wie ein Stahlskelett vom Magnet Boden angezogen zu werden, ohne Möglichkeit gegen zu wirken. War es der ein oder andere Liter Filterkaffee zuviel beim ausgedehnten Frühstück? Hätten die Pfannkuchen, Omeletts, Käse und Wurstscheiben, Müsli und Obst, der frisch gepresste Orangensaft  besser doch in den Magen wandern sollen? Stattdessen warten sie immer noch auf ihren Verzehr, wahrscheinlich vergebens.

Steil geht es bergauf. Wie lange? Was kommt dann? Ein Höhenflug vielleicht? Nach oben, immer weiter, immer höher, immer besser, darum geht es schließlich, sagt man, und dann gibt es auch kein zurück mehr. Oder ist das eventuell nur ein Trugschluss?

Die Geräuschkulisse scheint nachzulassen, wie in einem leichten Rausch, mit verminderter Geschwindigkeit, entfernen wir uns weiter vom Boden. Es wird ruhig, absolute Stille. Stillstand. Ein toller Ausblick. Die umgebenden Städte, Wälder, Felder, die von den Bauern emsig mit ihren mächtigen Maschinen für die nächste Saat vorbereitet werden, der ein oder andere kleine See,  sind glasklar zu erkennen, alles wirkt näher zusammengerückt. Die Luft fühlt sich frischer, sauberer an. Ein leiser Windhauch. Bin ich am Ziel? Kaum, denn bereits Sekunden Bruchteile später werden die Beine gnadenlos von der Erdanziehungskraft angesogen, während die Wolken meine Arme festzuhalten scheinen. Wie in einem Kokon der Schwerelosigkeit rase ich Mutter Erde entgegen. Schon einen kurzen Schrei später staucht sich der Körper zusammen. Der Kopf scheint in einem Körper aus Butter, bei 50 Grad Außentemperatur, zu verschwinden, die Gliedmaßen haben keine Chance etwas gegen den enormen Anpressdruck zu unternehmen. War es das? Machtlos wartet dieser winzig kleine Rest in mir, welcher noch zum Denken in der Lage zu sein scheint, darauf was folgen wird. Eine beklemmende, sehr beklemmende Situation.

Kaum hat sich die Körpergröße wieder etwas normalisiert, werden Rücken, Hintern, Oberschenkel auf die bereits etwas in die Jahre gekommene, rissige, rote Kunstleder Polsterung gepresst. Die Atmung hat für einen Augenblick ihren Automatismus verloren. Plötzlich befinde ich mich Kopfüber, immer und immer wieder und noch nicht ganz wieder aufgerichtet geht es bereits erneut im Steilflug und mit irrer Geschwindigkeit Richtung Himmel, welcher immer noch herrlich blau erstrahlt, soviel Zeit zum Genießen muss gestattet sein.

Durchgerüttelt wie ein  Long Island Ice Tea bei einem Barmixer Wettbewerb, wird der Körper mit voller Wucht in den überdimensionalen Sicherheitsbügel gepresst. Die Zentimeter dicke Polsterung der Bügel scheint so sehr von Bisswunden übersäht, das Zahntechnikstudenten problemlos ein praktisches Jahr damit verbringen könnten, Abdrücke zu nehmen. Erneuter Stillstand. Vor mir der Rest des Schienen Wirrwarrs. 

Ein Blitzlichtgewitter an Erinnerungen schießt mir durch den Kopf, abertausende Szenen meines Lebens scheinen sich direkt vor meinen Augen abzuspielen. 

Die Fußballmannschaft meiner Grundschulzeit, wer im siebziger Jahre Deutschland geboren wurde, kam an einer Anmeldung in der Ortsansässigen Fußballmannschaft nicht herum, blitzt auf. Ich sehe mich in viel zu kurzen Hosen und hautengem Trikot über den Platz rasen. Der Trainer am Spielfeldrand euphorisch. Wir waren gut! Ein erstes kleines Hochgefühl. Es folgte die erste Auswahlmannschaft, nur um nach Spiel eins mitgeteilt zu bekommen, das es für weitere Auseinandersetzungen mit gegnerischen Teams nicht ausreichen würde. Der erste kurze aber harte Fall. Es folgte ein ständiges Auf und Ab in der Schule, das erste jugendliche verliebt sein, natürlich in Paareinheit zur ersten Enttäuschung. Das erste selbstverdiente Geld, welches bereits nach dem ersten Besuch im nächstgelegenen Sportartikel Geschäft wieder in Luft aufgelöst schien.  Auch mein bevorzugter Sportverein machte nicht gerade häufig mit positiven Ergebnissen von sich Rede. Macht das alles überhaupt Sinn?

Die Gedankenfilmspule nimmt Fahrt auf, wird schneller, immer weitere Szenarien verwischen vor meiner Pupille, kaum noch erkennbar, bis hin zum plötzlichen Abriss des Filmmaterials.

Die vorderen Wagen des Achterbahnzugs befinden sich bereits wieder auf steiler Abfahrt und reißen schließlich auch mich erneut hinab. Mit voller Geschwindigkeit in die Steilkurve. Die für gewöhnlich straffe Gesichtshaut beginnt zu flattern, Tränen schießen über die Wangen und Ohren ins Haar und doch lässt sich die Kurvenfahrt genießen. Nicht zuviel Druck, nicht zu wenig. Die G-Kräfte meinen es gnädig. In einer Steilkurve sollte man leben, aber eventuell in jener aus einem Velodrom, da man Tempo und Kurvenlage selber entscheiden könnte. 

Kaum darüber nachgedacht, stehe ich Kopfüber, die Fliehkräfte so extrem das sich kein einziges Haar von meiner Kopfhaut wegbewegen würde. Noch zwei weitere Schädel Hirn Trauma Torsionen, den nächsten Hochgeschwindigkeitshügel hinauf, hundertachtzig Grad Kehrtwende und dann dieses Ohrenbetäubende, dumpfe rattern. Das war´s. Geschafft. Langsam rollt der Zug zurück zu seinem Startplatz. Die Sicherheitsbügel öffnen zischend  und der Druck auf den Schultern lässt nach.

Was für ein Ritt und welch eine Vielfalt an Emotionen. Da sind zum Einen jene, die euphorisch aus den vorderen Wagen aussteigen, die Arme halb tanzend in die Luft gereckt und innerlich vor Freude und neuem Selbstbewusstsein schreiend. Dann jene aus den mittleren Wagen, nicht ganz sicher ob sie den erst vor dreißig Minuten verzehrten Burger in sich behalten können und die höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten beiden Dekaden nur noch zu sehr speziellen Anlässen erneut ein ähnliches Fahrgeschäft betreten werden und dann wären da noch jene aus den hintersten Wagen, sicherheitsbewusst, dachten sie jedenfalls, bis sie feststellen mussten das verstecken nicht hilft und jeder durch dieses Auf und Ab muss. Die Einen früher, die Anderen etwas später. Schlussendlich hängt es von der jeweiligen Persönlichkeit und Einstellung ab, Höhen und Tiefen  zu meistern, gar zu genießen und das Beste daraus zu machen oder auf eher ebener Strecke and Ziel zu kommen, was in diesem Fall nur denjenigen gelungen sein dürfte, die erst gar nicht einstiegen.

Was auch passiert, es wird sie immer geben, die Höhen und die Tiefen, es liegt an jedem selbst, was er daraus macht.