Die reinste Form des Glücks

 

„Ich bin so glücklich“. Zweiundvierzig Tage nichts außer weißer Wände und Fliesen. Vom Schlafzimmer geht es ins Bad, weiter ins Kinderzimmer und von dort kurz in die Küche, schnell auf den hoffentlich sonnendurchfluteten aber doch nicht zu heißen Balkon und das wie ein Hamster in seinem Rad. Eintausend und Acht Stunden Monotonie, auch wenn Mami und Papi sich wirklich Mühe geben den Alltag so vielfältig wie möglich zu gestalten und mich mit Lauforgien samt Fußball, Football oder meinem süßen lilafarbenen Tretroller durch den langen Flur auf Trab zu halten versuchen. Selbst die Stifte die ich zum Malen verlange variieren. Mal sind es kunterbunte Wachsstifte, ein anderes Mal Filzstifte. Ja, Mami und Papi müssen auch bereits etwas verzweifelt sein. Glücklicherweise für die Beiden sind meine Farbspender abwaschbar. An Bildideen mangelt es sicherlich ebenfalls nicht, auch wenn am Ende immer wieder alles auf Pferde und Dinosaurier raus läuft. Dinosaurier haben mich gepackt, bestimmen meinen Alltag, neben Pferden, natürlich. Zahlen und Buchstaben soll ich lernen, immer und immer wieder. Auch hier sind Mami und Papi echt kreativ, verstehen aber anscheinend nicht, dass ich das längst kapiert habe, Dinos und Pferde aber einfach soviel interessanter sind.

Sechzigtausendvierhundertachtzig Minuten langer Blicke aus dem Fenster. Meist scheint die Sonne, der Wind biegt die Palmen und macht den Tauben und Möwen das Leben schwer, obwohl es hin und wieder scheint, als wüßten meine neuen gefiederten Freunde die Luftströmungen auszunutzen, mit ihnen zu spielen. An anderen Tagen regnet es, das ist interessant, lässt mich aber nicht auf den Balkon. Hin und wieder ziehen Mami und Papi die Gardinen zu. Die Sonne sei zu stark und könnte meine Haut verbrennen, meinen sie. Einige Zeit später werden die Fenster erneut über Feder Rollos abgedeckt, das funktioniert nicht immer und so schnellen die Rollos immer wieder nach oben, das ist lustig. Es heißt es wäre jetzt dunkel draußen und ich müsste in mein echt kuscheliges Bett, aber wie kann das sein? Ich bin weder mit dem Fahrrad gefahren, noch war ich auf dem Spielplatz oder bin die kleinen Feldwege, welche unsere Apartment Anlage umgeben, rauf und runtergesprintet, habe an den unzähligen bunten Blumen gerochen oder habe die Katzen beobachtet, welche sich gerne hinter den Blumen verstecken.  Ungern gehe ich nicht ins Bett, dort warten schließlich meine Lieblingsbücher auf mich und lesen ist toll. Aber irgendetwas geht trotz alldem nicht mit rechten Dingen zu.

Dreimillionen sechshundertachtundzwanzigtausend und achthundert ungewöhnliche Sekunden, in denen sich meine Eltern ungewohnt verhielten. Sind sie es doch für gewöhnlich, die mich jeden einzelnen Tag aufs Fahrrad setzen, mir Techniken zum Bremsen meines Tretrollers vorführen, wobei ich nicht einmal verstanden habe aus welchem Grund man langsamer werden solle. Jetzt stehe ich fast täglich vor der verschlossenen Wohnungstüre, auf meinem Fahrrad, sogar den Helm habe ich freiwillig aufgesetzt, aber die Türe öffnet sich nicht, auch Weinkrämpfe in sämtlichen Tonlagen und Intensitäten helfen nicht. Etwas stimmt nicht! Leute würden draußen vor der Türe alles richtig gründlich reinigen und reparieren, damit nachher alles schöner wäre, wenn wir dann wieder rausgehen. Das klingt super, glücklich macht es mich aber nicht. Meine Pferde und Dinos wären wahrscheinlich ziemlich traurig, würde ich sie alleine lassen, deshalb finde ich es in Ordnung mein Fahrrad wieder abzustellen, den Helm etwas zu entstauben um ihn wieder an den Fahrradlenker zu hängen, mit einem kurzen Versprechen, dass wir schon bald wieder gemeinsam die Strandpromenade entlang rasen, Treppenstufen gemeinsam meistern und viel erleben würden, sobald sehr fleißige Menschen da draußen alles für uns repariert und gereinigt hätten.

Und dann kam heute. Heute war plötzlich alles anders. Aufstehen, Pferde und Dinos begrüßen, sie kurz ausreiten lassen, Frühstück. Und dann DAS! Mein Fahrrad steht an der Tür. Meine Schuhe daneben. Mami holt meine Jacke aus dem Schrank und Papi bereitet meine Tasche vor. Was ist hier los?

Tatsächlich öffnet sich die Türe, zum ersten Mal darf ich die Türschwelle überscheiten. Die Treppe sieht steiler aus, irgendwie. Vorsichtig taste ich mich Stufe um Stufe hinunter. Papi hat bereits mein Fahrrad hinuntergebracht, aber er hat seine Schuhe vergessen. Nur Mami hat welche an. Ich werde tatsächlich wieder freigelassen, aber was ist mit Papi? Der geht morgen mit, wird mir erklärt. Heute bleibt er hier und sieht uns vom Balkon aus zu und vergewissert sich von der Gründlichkeit der Reinigungsarbeiten. Morgen wird es dann umgekehrt sein. 

Ist also doch nicht alles ganz koscher. Ich bin draußen, unter freiem Himmel, die Sonne strahlt, ich schaue die gigantischen Palmen hinauf, die auch heute mit dem Wind zu tanzen scheinen. Aus dem Augenwinkel erkenne ich wie Papi ihnen hinter dem Fenster zuschaut.

Los geht´s. Meine Füße setzen auf den heißen Asphalt, beschleunigen mein Laufrad. Es fühlt sich instabiler an als beim letzten Mal. Vielleicht hilft ein bisschen Geschwindigkeit. Schneller, immer schneller rase ich die Strandpromenade entlang, mein Blick aufs Meer gerichtet. Vollbremsung. Was ist das? Gelb schwarze, lautstark im Wind flatternde Bänder und Plastikabsperrungen am Strandzugang. Mein Magen fühlt sich schwer an. Mami sagt, dass der Reinigungsvorgang hier noch nicht ganz abgeschlossen sei. Reinigen? Sand? Ich bin sehr jung, aber...

Plötzlich tauchen zwei Männer in einer Art Uniform neben uns auf. Die Olivgrün gekleideten Männer grüßen uns freundlich, nehmen die bienenfarbenen Lärmbelästigungen ab und wünschen uns viel Spaß am Strand, aber mit Abstand bitte.

Mami zieht mir die Schuhe aus und langsam tauchen meine Füße in den warmen, weichen und sauberen Sand. Mein Blick geht erneut aufs Meer. Ich halte kurz inne, drehe mich langsam um: Mami, ich bin sooo glücklich!