Verschollen im Optimismus

 

Es ist kühl vor der Tür. Kein echter Winter. Kein Schnee, kein Eis oder Frost welchen es frühmorgens von der Windschutzscheibe des Wagens zu kratzen gilt um sich mit immer noch ziemlich wenig Durchblick langsam und gemächlich in den Berufsverkehr einzureihen.

Das Leben auf einer Insel im Atlantik ist mild, wenngleich eine hohe Luftfeuchtigkeit nach ergiebigen winterlichen Regenschauern, Temperaturen, die sich gerade noch so im zweistellig positiven Celsius Bereich befinden, und kaum vorhandene bis fehlende Isolation der Außenwände in Kombination dazu führen, das man sich die ein oder andere wärmende Decke zusätzlich im Besitz wünscht und fast täglich die Webseiten jener Händler besucht, welche ihre mobilen Heizöfen auch über die große, raue  See versenden würden.

Es ist still geworden vor der leicht beschlagenen Terrassentür, der Blick Richtung Meer getrübt und durch die massive Wolkenschicht versuchen vereinzelte Sonnenstrahlen eine Art magischen Sonnenaufgangsszenarios zu kreieren.

Vor nicht allzu langer Zeit, aber einer gefühlten Ewigkeit, lösten bereits in den frühen Morgenstunden sonore Töne Sport treibender Frühaufsteher die melodischen Klänge der Seevögel ab. Fließend war der Übergang in die Motorengeräusche erster Lieferfahrzeuge, welche die zahlreichen Strandbars und Cafes mit ihren Tagesvorräten versorgten und den kaum überhörbaren Strandaktivitäten. Das klappern von Windsurfbrettern über kristallinem Wasser, Volleybälle welche mit immenser Beschleunigung geöffnete Handflächen verließen oder Unterarme trafen. Menschengruppen welche sich lauthals über die vorabendlichen TV Sportveranstaltungen oder Verfehlungen diverser A, B oder C Promis ausließen um sich ebenso wortgewaltig auf einen ausgiebigen Strandtag vorzubereiten.

Von Nah und Weit kamen sie angereist, die Heerscharen. Des Klimas und den kulinarischen Spezialitäten wegen. Die Wind-, Meer- und Sonnenhungrigen. Für ein langes Wochenende oder auch für den Jahresurlaub am Strand, samt Kurzausflügen in die Vulkanlandschaften oder zur Weißweinprobe in die lokalen Keltereien.

Bis, ja, bis zu jenem Frühjahr als die Menschen auf ihrem Weg zu uns in ihren Fliegern von einer heranrollenden Welle lasen, auch die lokalen Medien überflutet wurden von Artikeln über jenes Unheil, welches sich über die Erde ausbreitet, als Inhalt. Alles andere wurde nebensächlich und schien komplett vom Bildschirm gelöscht. Ein kurzer zarter Druck mit der Fingerspitze auf die Löschen Taste und sogar ohne einen Fingerabdruck hinterlassen und ohne den Umweg über den Papierkorb genommen zu haben.

Was kommt da auf uns zu? Was würde es für eine Welle sein? Ein dahinplätschern am heimischen Baggersee? Etwas, das in den schwarzen, undurchdringbaren und mystischen Tiefen des Ozeans, durch eine mächtige Naturgewalt hervorgerufen und über tausende Kilometer um den Erdball geschickt werden würde, um mit voller Wucht Küsten zu überspülen und Schaden anzurichten?

Ahnungen wurden ausgesprochen, wirklich seiner Sache sicher schien sich kaum jemand zu sein. Aber ein Tsunami würde es werden, da waren sich dann doch plötzlich alle einig. Ob dieser dann mit voller Wucht auf alle Regionen treffen oder eventuell doch auf offener See bereits an Kraft einbüßen würde, sorgte für erneute Uneinigkeit.

Die Diversität von Ursachen, welche ausreichend Energie freisetzen können um eine Dünungswelle zu initiieren, ist groß. 

Eines haben aber alle Wellen gemeinsam. Sobald sie durch Untiefen oder Küstengebiete abgebremst werden, bauen sie sich zur Brandung auf und ziehen dabei das sich vor der Welle befindliche Wasser an. Da Tsunamis eine enorme Kraft, eine unvorstellbare Energie, in sich tragen, werden teilweise gesamte Küstenabschnitte trocken gelegt, bevor sich die Furcht einflössende  Wasserwand, welche nach und nach nicht nur den Horizont, sondern den Himmel zu verdunkeln scheint, zur tosenden und vernichtenden Brandung auftürmt. Drohend, leise und doch so laut.

Just in jenem Moment traf die Entscheidung, gesamte Landstriche lahm zu legen und alle Menschen schützen zu wollen, gerade jene ins Mark, welche  entweder nur zum täglichen Wassersport den Weg an den Strand finden oder gar die Küste nie besuchen würden. Jene, die sich lieber mit voller Hingabe, tagtäglich um die Gäste der seit Generationen geführten Tapas Bar,  dem niedlichen und urtypischen Restaurant um die Ecke kümmern oder mit Hochdruck heißes Wasser durch aromatisch frisches Kaffeepulver pressen, um den Menschen den Start in den Tag zu versüßen. In ihren Dörfern, einige hundert Meter über dem Meeresspiegel geht es darum, den Menschen durch ihre Kunst und ihren Frohsinn Leben einzuhauchen, zu helfen den Alttagstrott abzuschütteln und Gedanken freien Lauf zu lassen. Gedanken welche zu neuer Kreativität oder neuer Tatkraft verhelfen können.

Glücklicherweise ist so ein Tsunami kein Dauergast und sobald er eine mehr oder weniger große Schneise der Verwüstung hinter sich gelassen hat, etliche Existenzen ruinierte und meist für noch größeren personellen Schaden verantwortlich zeichnet, kehrt für gewöhnlich wieder Ruhe ein und es kann mit den Aufräumarbeiten begonnen, die Trauer verarbeitet werden. 

Es ist also in Ordnung für ein paar Tage die Füße hochzulegen, die Zeit zu nutzen eventuell neue Pläne zu schmieden um dann gleich wieder frohen Mutes und ausgeruht in den so geliebten Alltag zu verfallen. Ein paar Tage Solidarität. Packen wir gemeinsam an, um den Küstenbewohnern und Besuchern unter die Arme zu greifen und sie zu schützen.

Einige Wochen später also wurde es gestattet, Haus und Hof wieder zu verlassen. Gespannt ging es Richtung Strand. Von Wasser oder Verwüstung war aber kaum etwas zu sehen. Diejenigen, die es aus unterschiedlichsten Gründen nicht rechtzeitig schafften, sich vom Strand zu entfernen, nahm das Meer tragischerweise in seine Fluten. Sonst schien alles beim Alten und dennoch kam der Aufruf, sich erneut zu barrikadieren. Es sei ja allgemein bekannt, das die zweite Welle meist erst für Zerstörung und Schaden verantwortlich ist, während die erste Welle mehr als eine Art Vorbote bezeichnet werden könne.

Nachdem nun auch die zweite Welle ihr Chaos verbreitet hatte, blieb von der ehemaligen Sommer-, Sonnendestination nicht mehr allzu viel übrig. Es schien als hätten die Wassermaßen einen Großteil nicht nur dieser Insel verschluckt. Unbarmherzig. Gnadenlos. Zerstörerisch.

Es war ruhig. Gespenstisch ruhig. Die Ruhe vor einem nächsten Sturm? Eher weniger. Es war schlichtweg kaum mehr jemand vorhanden. Strände, Strassen, Städte: Menschenleer. Aus Furcht vor dem was noch kommen könnte. Viele waren geflohen. Niemand kam zurück. Existenzen vor dem Ruin. Es war niemand mehr da den morgendlichen Kaffee Duft in sich aufzusaugen um anschließend bei tagesaktueller Lektüre oder unter Kollegen und Freunden entsprechendes Heißgetränk zu genießen.

Keine Volleybälle knallten über den sauberen Sand. Lieferwagen wurden überflüssig. Bars und Restaurants geschlossen.

Existenzen stehen plötzlich vor dem Abgrund oder machten bereits den einen Schritt weiter und schaffen es gerade noch sich mit letzter Kraft und zwei Fingern an einem einzelnen morschen Ast zu halten.

Aber Hilfe würde bereits unterwegs sein. Rettungsflugzeuge und Rettungsschiffe, gegen die selbst die größten Ozeanriesen wie gewöhnliche Fischkutter wirken würden. Schließlich betraf es alle und dementsprechend riesig würde die sofortige Hilfe ausfallen. So jedenfalls waberten die Gedanken von einem Ohr zum anderen und zurück.

Und tatsächlich erschienen die ersten Wasserverdränger am Horizont. Nicht ganz so groß wie es die äußerst positiv ausgelegte Vorstellungskraft hergegeben hatte, aber Hilfe immerhin. 

Doch andocken würden sie nicht. Nirgends. Eventuell war das Erscheinen am Horizont als Hoffnungsspender gedacht, der dann allerdings rasch wieder verschwand. Auch die Rettungsflieger ähnelten eher etwas in die Tage gekommenen Ultraleichtfliegern, welche sich aufgrund zu geringer Tragfähigkeit selbst den am Abgrund hängenden nicht unter die Arme greifen hätten können.

Weitere Schiffe würden folgen und Fluggeräte. Kleiner, immer kleiner würden sie sein und Anlegen oder zum Landeanflug ansetzen die wenigsten.

Doch die Hoffnung schwindet nicht, im Gegensatz zum Rettungseinsatz.

Selbstinitiative ist gefragt, zurück zu den Ursprüngen. Jagen, Fischen, Verteidigen. 

Es heißt sich wieder zu bewegen, sportlich aktiv zu werden um evtl. selbst den Weg anzutreten wie Chuck Noland im fiktiven Film Cast Away – Verschollen. 

Damit die eigene Situation, das Alleine dastehen und die Hilflosigkeit kein Dauerzustand bleiben, sondern ebenso zur Fiktion mutieren, gilt es loszulassen. Loslassen von einstigen Plänen. Loslösen von der Vergangenheit. Das „Jetzt“ als neuen Startpunkt nehmen und sich bewegen. Pläne verfolgen und verwirklichen. Neue realistische Ziele setzen und den Tiefpunkt als Chance auf Neues anzunehmen.

Wer weiß, vielleicht ist genau das der Generalschlüssel, welcher neue Türen öffnen wird. Und auch auf einsamen Inseln befinden sich Türen die sich öffnen lassen um neue Wege frei zu geben.