Seite zwei

Elegant liegt es vor mir. Ein leiser Windhauch der seinen Weg durch das halb geöffnete Fenster des wohltemperierten Wohnzimmers bis hin zum Arbeitstisch geschafft hat, hebt die federleichten Kanten leicht an und lässt sie durch das warme und butterweiche Streiflicht der nicht sonderlich modernen Schreibtischlampe zur einen und dem durch die leicht geöffneten Jalousien fallenden letzten Sonnenstrahlen zur Anderen, noch wertvoller erscheinen. Jede einzelne Faser scheint förmlich hervorstechen zu wollen, eventuell um ihre ganz persönliche Geschichte und  ihren Leidensweg der kürzeren Vergangenheit erzählen zu können. Vor nicht allzu langer Zeit lebten die Fasern samt ihrer Artgenossen in einem herrlich grünen Wald, atmeten durch kaum aufzählbare Faktoren verschmutzte Luft, nur um diese gefiltert und gesäubert wieder an die Umwelt freigeben zu dürfen, nichts böses ahnend, bis sie eines Tages mit ohrenbetäubendem Lärm zuerst zu Boden gebracht, abtransportiert, zerkleinert, vermischt und gepresst würden, damit entweder mit voller Wucht bunte, meist aber schwarze Buchstaben aufgebracht werden könnten, oder mit elegant majestätischem  Schwung Tinte aufgetragen würde. Und so liegt es nun vor mir. Ein Seite in schwarz bedrucktes Faserstoff Wasser Gemisch. Nach ausgiebigem Studium, sofern der Inhalt wirklich wichtig erschien, dieser Seite, dieses Blattes Papier, legen sich die Hypothenarmuskeln, der Handballen unterhalb des kleinen Fingers, sanft auf die leicht aufgeraute cremefarbene Tischplatte, um mit der Fingerspitze des Zeigefingers die obere rechte Ecke des Blattes Richtung bereitliegendem Daumen zu schnipsen und die Seite zu wenden. So wurde es gelernt. Immer beide Seiten des Blattes zu studieren bevor man sich ein endgültiges Bild, eine eventuell wichtige Meinung zum gerade gelesenen, bilden mag, Aufgrund derer wichtige Entscheidungen getroffen werden sollten. Tatsächlich befindet sich meist erst die aufschlussreichste Information zum Thema auf Seite zwei, springt dort erst der Funke über. Liest man eine Aufbau Anleitung eines neu erworbenen Möbelstücks nur zur Hälfte, darf man sich wohl damit genügen, auf ein halbfertiges Bauwerk zu starren, Bücher, Gläser oder Dekorationen ungebremst zu Boden stürzen, wenn die tragenden Bretter nicht befestigt wurden. Wer bereits nach dem Prolog des neu erworbenen Buches meint das Ende zu kennen, es bereits dann als langweilig erscheint, dem entgehen ziemlich sicher interessante und unerwartete Wendungen, neue Informationen und auch sehr wahrscheinlich der tatsächliche Ausgang.

Um sich ein reales Bild erschaffen zu können, ist es von Nöten das Blatt zu wenden. Wer sich nur mit den teils reißerischen Überschriften der Presse zufrieden gibt und meint er hätte das aktuelle Geschehen im Blick, sollte sich nicht wundern, wenn es dann doch ganz anders kommt als gedacht, Dinge geschehen, welche nicht im geringsten hätten erahnt werden können.

Wäre nicht jemand auf die Idee gekommen, die B Seite im vinylen Musikzeitalter unter diamantener Nadel im Kreis drehen zu lassen, wären unzählige Musikstücke wohl nie zu eben jenen Hymnen mutiert, welche heutzutage als Jahrhundert Hits gelten, über Wochen, Monate und Jahre die Gehörgänge der Weltbevölkerung verzückten.

Gäbe es allerdings nur ein einziges Musikstück, würde ein Vergleich nicht möglich sein und somit das Urteil ob es gut oder schlecht wäre, sehr subjektiv. Ähnlich verhält es sich mit geschriebenem Gut. Kommt dieses von einer einzigen Quelle, wandelt man bei der Meinungsbildung auf einem äußerst schmalen Grat, welcher nicht selten mit einer schlammig glitschigen Oberfläche bedeckt sein wird. Um einen festen Halt zu gewährleisten, lohnt es sich also in ein stabiles und rutschfestes Outdoor Schuhwerk zu investieren, in Form von weiteren Quellen, Vergleichsmaterialien. Egal ob gebundenes Papier oder online. Es lohnt sich die Finger zu bewegen um die Seiten zu wenden oder einfach weiter zu scrollen. Tatsächlich wird auffallen, das es sich nicht um Seite eins und zwei handeln wird, sondern eher um einen Rubik Würfel. Vielseitig, und mit jeder Bewegung ändert sich das Erscheinungsbild, sichtbare Informationen befinden sich in stetigen Wandel. Ständig wechselnde Sichtweisen, mal geradlinig und mal über Kreuz, bis nach erfolgreichem Studium aller Seiten und ohne großen Zauber jede einzelne Seite für sich ein schlüssiges und einheitliches Bild ergeben wird.

Je vielfältiger, je bunter die Seiten, umso informativer. Stürzt eine Informationsflut massiv wie die Niagara Fälle oder aus extremer Höhe, ähnlich der venezolanischen Angel Falls, in rasender Geschwindigkeit und mit enormer Wucht, aus einer oder ähnlichen Quellen stammend auf den Würfel ein, besteht die Gefahr das die Kanten verflachen, aus einem geometrisch perfekten Kubus schnell eine Kugel. Die Kanten verwischen und es wird immer schwieriger werden, Inhalte und Quellen voneinander abzugrenzen. Aus schwarz weiß wird ein Grauverlauf. Wäre es nicht nur schöner sondern auch sinnvoller die gesamt gegebene Palette an Farben samt Komplementärfarben zu genießen?

Ist ein Leben mit Regenbogen nicht erstrebenswerter als sich ausschließlich über depressive Weltuntergansstimmung unter schwarzem Wolkenhimmel zu ärgern?