Heimat

 

 

Die Beine sind schwer, die Knie scheinen dem Körpergewicht nicht mehr gewachsen zu sein. Der Blick wandert wieder und wieder auf den frisch polierten Marmorboden, nimmt die vorbeihuschenden Füße wie in Trance wahr. Eine weitere lange Reise hat dem Körper zugesetzt und doch behält die Euphorie, über das was kommen sollte, die Oberhand. Des frühen Morgens zu Trotz, drücken die bereits immensen Temperaturen gepaart mit einer Luftfeuchtigkeit nahe der Dreistelligkeit, wie ein Sumo Ringer, welcher gemütlich seine Hände auf meinen Schultern platziert hat, um meinen Körper einige Zentimeter schrumpfen zu lassen. Bei geringster Bewegung verrichtet das körpereigene Kühlsystem seine Arbeit und meine Baumwollkleidung wird sich nur noch mit fremder Hilfe von Rücken, Armen und Oberschenkeln lösen lassen. Flüsse kühlender Körperflüssigkeit rinnen den Körper hinab bis ins Schuhwerk, welches schon sehr bald Flip Flops weichen würde.

Nur noch ein paar Schritte sind es bis zum Gepäckband. Taschen sowie Wassersportausrüstung sind wohlerhalten angekommen, wie immer eigentlich. Kurzes Warten, bis die etwas gestresste Meute Mitreisender den Weg zu meinem Hab und Gut freigeben würde und schon darf es weitergehen. Die Räder des Gepäckwagens sorgen für eine unangenehme Geräuschkulisse, bestimmen die Richtung. Durch die freundlich grüßenden Zollbeamten hindurch schimmern bereits die türkisgrünen Wasserfarben des Meeres durch die im Wind wehenden Palmblätter. Menschen unterschiedlichster Kulturen begleiten mich auf dem Weg zur Mietwagenstation. Nach nur wenigen Minuten ist das Gepäck verladen. Angekommen. Wieder einmal. Neuer Ort, gleiche Routine. Der Rhythmus welcher mein Leben bestimmt. Ein Leben größtenteils aus dem Koffer, mit dem Privileg an einigen der schönsten Orte dieser Erde mit dem Geld verdienen zu dürfen, was gleichzeitig Passion und Erfüllung bedeutet. Selbst der einzige Fixpunkt, das auserwählte neue zu Hause, weicht von dieser Urlaubsidylle nicht ab.

Ein Leben am Meer, vielfach unter Palmen, immer am Strand, den Sand unter den Füßen, auch wenn dieser teils recht grobkörnig ausfallen kann. 

Die warme Brise bläst ins Gesicht. Bügelwäsche gehört nicht zur Standartausstattung,. Shirts und Shorts sind dagegen immer dabei.

Plötzlich ist es nicht mehr die Hitze, sind es nicht mehr unzählige Reisestunden in einem Flugzeug, in welchem selbst für Kleinwüchsige der Bewegungsfreiraum im negativen Bereich liegt, welche die Muskulatur erschlaffen lässt. 

Der Blick wandert Richtung Boden, der eben noch so strahlende Marmor scheint sich in seine diversen Mineralien aufzulösen, kleinste Partikel lösen sich und ich sehe die Füße in Treibsand verschwinden. Machtlos. 

Farbtöne verdunkeln und ändern sich. Vor den klar blauen Himmel schiebt sich eine dunkle Wolkenschicht, der Sand der Strände vereint sich mit dem Treibsand, welcher mich unaufhaltsam weiter sinken lässt, sanft und leise. 

Laubbäume ziehen an mir vorüber, dann steigt der unverkennbare Geruch von Nadelbäumen in die Nase. Mischwald. Der Salzgeruch des Ozeans verschwindet. Stattdessen glänzt die Wasseroberfläche eines Baggersees in unmittelbarer Nähe. Kleine Buchten, künstlich angelegte Sandstrände, eine Menge Plastikschlauchboote, Luftmatratzen, der Geruch von Pommes Frites und Currywurst, gepaart mit Kokos Sonnenöl. Kein Zweifel, in jener schwierigen Situation werden Kurzfilme aus der Hirnrinde gelöst, Gedanken an die Kindheit, an die Heimat, an alles heimische, freigesetzt.

Der Gang zur Bäckerei um die Ecke, die Baumwoll Brötchentüte in der einen Hand, die Scheibe Wurst, welche ich gerade im Fleischereifachgeschäft geschenkt bekommen habe, in der Anderen. Gedanken an Meer und Strand sind in die Ferne gerückt. Schließlich führt die tägliche Mountainbike Runde entlang stiller und idyllischer Flüsse, durch riesige Mischwälder. Die von den Pferden festgetretenen Trails, werden mindestens genauso häufig von Rehen und Wildschweinen frequentiert, wie von gefederten Zweirad Stramplern und Menschen, die ihr Glück auf dem Rücken der Pferde gefunden haben. Blumen sprießen und blühen und die Enten schnattern in der Ferne. Auf den Fußballplätzen der anliegenden Ortschaften wird geschrien und geflucht. Schweißgeruch liegt in der Luft und vermischt sich schon rasch mit den dichten Rauchschwaden, welche aus den Gärten wabern. Halbverbranntes Fleisch über glühender Holzkohle. Einzigartig, aber der körperlichen Leistungsfähigkeit auf dem Mountainbike nicht gerade zuträglich. 

Am Horizont schießt eine Gewitterwolken Front in die Höhe, läßt nichts Gutes erahnen. Starker Wind setzt ein und es wird Zeit nach Hause zu kommen. Immer wieder beeindruckend so ein Hitzegewitter. Und diese Regenschauer, so erfrischend, so belebend. Ja, Regen kann toll sein, und Jahreszeiten. Wenn man nur noch heißen Sommer und etwas weniger heißen Sommer als periodische Wetterwechsel kennt, stellen das wechselhafte Wetter und aufblühen der Pflanzenwelt im Frühling, der Sonnen- Gewitterwechsel im Sommer, die Farbenpracht und typischen Stürme im Herbst, tolle Schneelandschaften im Winter, eine sehr willkommene Abwechslung dar.

Aber aus welchem Grund kommen gerade in einer solchen Situation Bilder der Heimat in den Sinn? 

Liegt es am Altbekannten, an den vielen positiven und guten Momenten, an welche man sich immer erinnern wird? An den alten Freunden? Der Familie? 

Liegt es einfach an diesem Sicherheitsgefühl welches einem die gute, alte Heimat immer noch vermittelt?

Dabei ist die Situation im Treibsand bei weitem nicht hoffnungslos. Menschen, Helfer strecken und recken ihre Arme entgegen. Äste der umliegenden Bäume befinden sich in Reichweite. Seile sind zwischen den Bäumen gespannt. Fehlt nur der entscheidende Griff. 

Eine Entscheidung muss getroffen werden. Welchem Helfer traue ich am meisten zu, wann soll der Antebrachium, der Unterarmmuskel, den Befehl zum Zugriff erhalten?

Einmal entschieden gilt es mit voller Energie und Überzeugung die Hand anzulegen und nicht wieder loszulassen. Nur dann wird der Treibsand zu einer weiteren Lebenserfahrung, aus der man es gestärkt heraus geschafft haben wird.