Schrei in den Wald

 

Schwerelos schwebe ich über dem Boden, kann mein Spiegelbild in den hochglänzenden Keramik Fliesen beobachten. Ich stelle mir vor wie mein Körper steil in die Höhe schießt. Weiter, immer weiter. Es folgt absolute Stille, Sturzflug. Füße und Körper verlieren den Halt. Tatsächlich befinde ich mich aber weder auf einem Parabelflug, kein aerodynamisch perfekt ausgetüftelter Flugkörper umgibt mich, noch wurde ich aus der geöffneten Flugzeugtür gezogen, ohne Fallschirm, und doch fühlt sich mein Leben in der aktuellen Situation genauso an.

Der Boden unter den Füßen, welcher mich sonst so solide durchs Leben trägt, egal wie hoch ich springe und wie hart ich danach auch wieder lande, mich auffängt und hin und wieder auch ins stolpern bringt, er hat sich aufgelöst, ist zerbröckelt. Kein leichter Erdrutsch, eher krachend, donnernd, einer Gerölllawine gleich.

Ich warte auf den tiefen, langen, freien Fall. Ist die Schwerkraft außer Kraft gesetzt? Kaum. Was hält mich also davon ab in rasender Geschwindigkeit in die Tiefe zu stürzen?

Es wirkt als würde ich von einer großen, schneeweißen Wolke getragen, sanft, nicht ganz federleicht. Eine Wolke, deren Densität sich bei der geringsten Klimaänderung schlagartig ändern, mich fallen lassen könnte.

Auf meinen Schultern haben sich Mini Klone meiner selbst niedergelassen.

Zur Linken, blonder Schopf, schneeweiße Hose, azurblaues Jaquette aus welchem weiches, weißes Gefieder hervorzukommen scheint. Zur Rechten sein dunkelhaariges Pendant, in schwarz glänzendem Seidenumhang, ein roter Haikragen ziert das ebenso seidig glänzende, rote Hemd unter schwarzer Anzugsweste. 

Wer kennt sie nicht? Sie begleiten uns alle und doch kamen sie mir nie so nah.

Gut und Böse. Oder wie ich sie eher bezeichnen würde: Positiv und Negativ.

In die Fäden des weiß blauen Positiv Pols habe ich mich eingehakt. Wie eine Marionette steuert und hält er mich, lässt mich nicht fallen.

Währenddessen versucht der Negativ Pol die positiven Teilchen um meinen Körper herum in sich aufzusaugen, wuchtig, unermüdlich, schwergewichtig versucht er mich in die Tiefe zu ziehen.

Ohne durchgehende Isolierung würde ihm dies wohl auch gelingen. 

Wie einen schützenden Mantel habe ich eine unsichtbare Schicht über Schultern und Kopf geschwungen, enganliegend. Das Gehirn hat bei Produktion und Fertigstellung volle Arbeit geleistet. Hauptbestandteil: Positive Gedanken.

Schützend und sicher fühlt er sich an, mein Mantel, dabei ist er eigentlich ein recht fragiles Gebilde. Der Minuspol ist wach, hellwach. Immer. Jede auch noch so minimale Schwäche wird erkannt und genutzt um die Isolationsschicht anzukratzen, einzuritzen, bis ein Loch entsteht und das dunkle Mini Ich das Positive aus meinem Körper saugt wie der neueste Zyklonstaubsauger.

Zu einfach wäre es nachzugeben, nichts zu unternehmen. 

Positiv werden und vor allem positiv zu bleiben ist nicht einfach, der Energieaufwand ist teilweise recht groß und doch so lohnenswert. Der einfachste Weg zu positiverem Gedankengut? Bewegung! Egal wie klein der Raum, wie beschränkt das aktuelle Leben. Möglichkeiten sich körperlich zu betätigen gibt es immer. Nicht aufschieben. Jetzt, sofort. Hat sich der Zug einmal in Bewegung gesetzt wird einiges einfacher.

Wer kennt das nicht: Fahrradfahren steht auf dem Programm, aber obwohl es ein sonniger, windstiller Tag ist, der Asphalt glattgebügelt unter den Gummierungen des Zweirads glimmert, und doch wirkt es so anstrengend. Die Energie fehlt, jeder einzelne Tritt ins Pedal kostet Überwindung, bis man sich entscheidet die Beinmuskulatur drei, viermal mit deutlich mehr Kraftaufwand einzusetzen, das Fahrrad zu beschleunigen und plötzlich fährt es sich wie von alleine. Der Energieaufwand scheint deutlich zu schwinden und der Spaß setzt ein.

Es wird viele dieser Tage geben, an denen das Hirn die Informationen an den Körper weiterleitet sofort abzusteigen und das Fahrrad umgehend  wieder zurück in die Garage zu schieben.  Es lächelt in schwarz und rot von der rechten Schulter.

Es werden Umwege nötig sein, immer wieder und obwohl man sich dessen bewusst ist, fällt es nicht leicht die Blockade zu überwinden und diesen Umweg auch zu gehen. 

Im Windsurfen verbringt man die meiste Zeit auf sogenannten Amwind Kursen, in einem gewissen Winkel Richtung Wind, da es sonst Aufgrund von Strömungen, Querkräften, Drift nicht möglich wäre an den Ausgangsort zurück zu kehren. Der direkt Weg ist langsam, kraftraubend, vermittelt aber ein relatives Sicherheitsgefühl, schließlich habe ich mich auf den Weg gemacht und bin unterwegs in die richtige Richtung und werde auch ankommen, wenn alles gut verläuft. 

Lasse ich mein Board durch dosierten Druck auf den vorderen Fuß, gleichzeitiges Vorschieben des Masts Richtung Bug und aktives Dichtholen des Segels etwas auf raumen Kurs, also „weg vom Wind“ ,abfallen, begebe ich mich auf einen Umweg. Dieser Beschleunigt mein Board allerdings extrem und durch die gesteigerte Geschwindigkeit werden deutlich bessere Amwindkurs Winkel möglich und der Energieaufwand wird ebenfalls rapide gesenkt. Ein Umweg der sich lohnt.

Soll der Isolationsmantel seine Arbeit verrichten, das kleine schwarz rote Männchen auf meiner Schulter wütend fluchend auf und ab hüpfen und dabei eventuell sogar von der Schulter stürzen, wird der gelegentliche zusätzliche, kurze, Energieaufwand, der kleine Umweg, von Nöten sein.

Schwache Momente wird es immer geben, das Mantel Reparaturkit ist allerdings immer vorhanden und bekannt.

Bewege Dich, halt Dich fit, vordere Dich selbst heraus, immer wieder aufs Neue, jedes Mal ein bisschen mehr. Lächle. Lachen ist Gesund heißt es.

Lerne, nimm die Situation als Chance auf neues wahr.

Lächle und sei positiv und die Welt gehört Dir.

Wie man in den Wald schreit...