Bewusstsein

 

Langsam dreht sich der Schlüssel im Schließzylinder, es scheint eine Ewigkeit, das leise Klicken, als sich der Bolzen langsam aus der Verriegelung schiebt, es scheint eine Unendlichkeit entfernt und doch so lebendig, frisch, erlösend. Fünfzehn Tage sind es bereits her, daß mein Schuhwerk die Melange aus Vulkan- und Wüstenstaub unter seinen Sohlen spüren darf. Es ist früh am Morgen, die Sonne hat vor kurzem ihren trägen, mühsam wirkenden Weg über den Horizont geschafft, ganz ohne das typische, allmorgendliche und atemberaubende Farbenspiel, wenn die ersten Sonnenstrahlen von mächtigen Cumulus Wolken auf die Wasseroberfläche der meist bewegten See reflektieren und doch scheint die Lichtstimmung anmutend, fast magisch, die langen Schatten der Häuser, Gassen und Pflanzen, ja der Pflanzen, endlich wieder Natur. Alles scheint saftiger, farbenfroher, aromatischer, selbst Sträucher scheinen sich an der Ladentheke jener Parfümerien bedient zu haben, welche durch die aktuelle Ausgangssperre ebenfalls seit Wochen brach liegen. Fünfzehn Tage waren es nur, keine Ewigkeit, und doch nehme ich alles so unglaublich intensiver wahr. Dazu diese Ruhe, und die Luft, keine Fahrzeuge, keine Motorengeräusche, das Pressluft Gehämmer der umliegenden Großbaustellen, Fehlanzeige. Keine Kondensstreifen, welche üblicherweise ohne Pause in den globalen Luftraum gezeichnet werden, nur ein klares, sattes blau. 

Geniessen. Atmen. Staunen. Entdecken.

Einfachste Dinge fallen sofort ins Auge. Diese kleinen unscheinbaren Details, im alltäglich Leben immer im Hintergrund, durch Hektik, Bewegung und Geräuschkulisse versteckt, treten sie nun zum Vorschein. Farben und Formen der Pflanzenwelt, Architektur der angrenzenden und teils schon seit langem stillgelegten Gebäude entlang des Wegrands, ins sich zerfallende Maschendrahtzäune, Wildwuchs, grauer Putz, an vielen Ecken und Enden bringen nur die künstlerischen Erstversuche einiger Sprühdosenmaler etwas Farbe ins Spiel. Blickwinkel, die vorher nie wahrgenommen wurden, Menschenmengen musste ausgewichen werden und das Sehen war eingeschränkt, fokussiert, geradeaus. Wer läuft schon gerne alle paar Meter in einen wie ferngesteuert agierenden Smartphone Zombie?

Es sind diese neuen Aussichten, für welche plötzlich Zeit ist sie wahr zu nehmen. Nicht mehr ganz so perfekte Bäume und Pflanzen, vielleicht doch schon etwas länger nicht mehr gepflegt und doch atemberaubend, Risse in der Straße und auf den Gehwegen, welche schon vor langer Zeit hätten repariert werden müssen. Wirklich müssen? Und die Straßenlaternen, ja, diese Straßenlaternen. Wie häufig habe ich sie bereits passiert, fotografiert, mir Gedanken gemacht wie lange ihnen die Salzangereicherte Luft bereits beim oxidieren half. Das war es aber bereits an Beachtung welche jene Beleuchtungsapparaturen erlangen sollten. Bis jetzt.

Und doch stehen sie da, unscheinbar, in sattem aber dezenten Smaragdgrün, unauffällig, fast schon getarnt entlang der Gehwege und Strandpromenaden, in mattem schwarz in den besiedelten und touristischen Ortsteilen oder strahlendem Königsblau im Pueblo Marinero, dem ehemals urigen Fischerdörfchen mitten im Zentrum des Orts, in welchem die Fischer seit langem unzähligen Pubs, Cocktail Bars,  Restaurants und Souvenirshops weichen mussten. Der Tourismus hat Einzug gehalten, langsam, nicht explosiv, über einige Dekaden hinweg, mit ihm kam der Wandel, stetig, fast unaufhaltsam. 

Es ist nicht viel aus den Guten alten Zeiten geblieben, aber die Straßenlaternen, ja die Straßenlaternen waren anscheinend immer schon da, anfänglich wahrscheinlich noch händisch allabendlich mit Feuer gezündet, um einen warmen, flackernden Schein auf das Pflaster zu werfen, heute mit modernen LED Leuchtquellen versehen. Aber wenn die Laternen nur reden könnten, was hätten sie nicht alles zu erzählen, über in der Abenddämmerung herumstreunende Kinder, im Wettbewerb über den besseren und zielgenaueren Wurfarm, die Lichtquelle mit treffsicheren Steinwürfen auslöschend, nicht ohne vorher noch mindestens eine der vier Glasscheiben zu durchbrechen und diese mit klirrendem Lärm auf dem Boden zerschellen zu lassen. Über Lampenwärter, welche in ständigem Rhythmus wiederkehrten um zerschellte Scheiben und Glühelemente zu ersetzen. Geschichten hätten sie zu Erzählen über Liebespaare, erste Küsse, Streit, Tränen der Freude und Tränen der Trauer, über Hunde, ja ganz sicher hätten sie viel über Hunde zu berichten, über Sportler, vielleicht von Hunden angetrieben, junge Eltern und sicherlich auch über das ein oder andere illegale Vergehen. Wenn sie doch nur reden könnten und irgendwie habe ich das Gefühl als würde genau das gerade geschehen, in dieser absoluten Stille, in unglaublichem Licht. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Eindrücke nach all diesen Tagen, eingesperrt in vier Wänden, immer wieder die gleichen vier Wände, weiß, fad. Da kommen mir die Laternen definitiv entgegen.

Eines ist mir aber Gewiss, die Qualität mit denen eben jene Leuchtelemente gefertigt wurden, vor langer Zeit, wünschte ich mir heute, für uns alle, es würde einiges erleichtern. Vielleicht, ja vielleicht, würden wir tatsächlich stärker aus dieser Situation herauskommen, in ein paar Jahren schmunzeln, eventuell gar lachend Geschichten erzählen über diese Zeit. Vielleicht stehen wir aber auch einfach nur da, wie die Laternen, und lassen Andere über Geschehenes oder auch nicht Geschehenes sinnieren.